Die von Balthasar Gracián niedergeschriebenen Lebensweisheiten nehme ich immer wieder zur Hand, um Anregungen zum Nachdenken zu erhalten.
Zum Kauf meiner ersten Ausgabe, der Übersetzung von Schopenhauer, wurde ich angeregt durch die Kurzfassung seiner 2. Lebensweisheit:
Herz und Kopf– die beiden Pole der Sonne unserer Fähigkeiten. Eine ohne das Andere – halbes Glück.
Im Buch ist dann noch die folgende und zugehörige Textpassage enthalten: Verstand reicht nicht hin, Gemüt ist gefordert. Ein Unglück der Toren ist Verfehlung des Berufes im Stande, Amt, Lande, Umgang.
Sprachlich ist die Übersetzung von Schopenhauer natürlich in seine Zeit zu verorten, wobei ich die verbildliche Interpretation „Herz und Kopf – die beiden Pole der Sonne unserer Fähigkeiten“ sehr schätze. Man kann die Begeisterung bei der Übersetzung spüren.
In der Neuübersetzung wählt Hans Ulrich Gumbrecht die Formulierung „Gemüt und Verstand“. In voller Übersetzung lautet die Lebensweisheit hier: Gemüt und Verstand. Die beiden Achsen, welche Fähigkeiten strahlen lassen: eine ohne die andere, halbes Glück. Unglück des Dummen, die Bestimmung in Gesellschaft, Beruf, Land, Alltag zu verfehlen.
Sprachlich wird die Lebensweisheit hier konsistenter formuliert, ohne eine Verbildlichung. Die Verwendung der Bezeichnung des Dummen ist angesichts einer zunehmenden Verdummung (Globalisierung der Dummheit) treffend für ein zitieren dieser Lebensweisheit.
Die Unterschiede in der sprachlichen Übersetzung weckten meine Neugier für den Originaltext. Balthasar Gracián verwendete die Begriffe „Genio y Ingenio“, dessen direkt Übersetzung (Pons) lautet „Genie und Einfallsreichtum“. Vergleicht man die beiden deutschen Übersetzungen sieht man, welche Mühe sich die Übersetzer gemacht haben, den Sinn in das Deutsche zu übertragen. Es öffnet ebenfalls die Möglichkeit seine eigene Interpretation zu formulieren. Eine Herausforderung an das individuelle Vermögen mit Worten spielen zu können.